Kurzschrift des Lebens – Der Berliner Maler Jochen Senger in der Galerie Parterre

Der Tagesspiegel, Berlin, 26. September 1995
Katrin Bettina Müller

Wie ein Kinderbuch die Welt benennt, beschreiben die Bilder von Jochen Senger eine Neuordnung der Wahrnehmung: Hier bin ich. Vier breite Pinselstriche begrenzen den Ort. Das ist mein Bett, mein Haus, das Fenster, das sich vor mir öffnet, die Fläche, auf der ich male. Das ist der Raum des Lebens und der Kunst.

Breite Striche nebeneinander markieren die Säulenhalle und den Wald, den Bretterzaun und den Zebrastreifen. Als Spur des Animalischen katzbuckelt dann und wann eine schwarz hingewischte Form.

Sengers zeichnerische Kürzelschrift verführt auf den ersten Blick zum schnellen Lesen der Bilder. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch, daß in die großzügig schwarz und weiß übermalten Flächen kleinere Segmente eingeklebt sind. Wie ein Buchdeckel verschließt die Farbei ein lange Geschichte, die von ihrer eigenen Entstehung erzählt.

Der Rückgriff auf eine elementare Zeichensprache erweckt oft den Anschein, daß vom Leben an und für sich erzählt wird, jenseits gesellschaftlicher Überformungen. Nicht von ungefähr entdeckten die Maler der westlichen Nachkriegsmoderne archaisch anmutende Ausdrucksformen als ein ideologiefreies Feld. Eine weitere Renaissance erlebte die Sehnsucht nach scheinbar authentischen Botschaften in den achtziger Jahren unter jungen Künstlern, die sich im Osten von der Bedeutungsüberfrachtung der Malerei abgrenzen wollten. Wer Senger in der Galerie Parterre kennenlernt, könnte ihn glatt mit dieser Generation verwechseln.

Tatsächlich reichen die Wurzeln des 1929 geborenen Malers bis in die Nachkriegsjahre zurück, als er in Berlin und Paris studierte. Seine Arbeiten aus den Jahren 1983 – 1995 in der Galerie Parterre verraten kaum noch Spuren seiner malerischen Vergangenheit als surrealer Landschafter. Zwischen Spanien, Mexiko und Frankreich pendelnd machte er 1970 in der Nationalgalerie mit Bildern Station, deren von unheimlicher Strukturen durchtriebenen Räume sich einer psychoanalytischen Interpretation öffneten. Begleiter seines künstlerischen Weges sehen in der poetischen Verknappung seiner Sprache, die in den achtziger Jahren begann, eine Fortsetzung der Reise in die Imagination.