Eröffnungsrede

Ausstellung Galerie Parterre, Berlin - Prenzlauer Berg, 12. September 1995
Michael Nungesser

Liest man die Biographie des Malers Jochen Senger, so fällt die Stetigkeit auf, mit der Veränderungen stattfinden. Veränderungen von Zeit und Raum.

Räumliche Veränderungen - das bedeutet Reisen. Das heißt Studienaufenthalte in anderen Ländern. Das heißt Leben in der Ferne, in neuer Umgebung. Das heißt auch Rückzug ins Atelier auf dem Land.

Zeitliche Veränderungen - auch das heißt Reisen. In andere Klimaräume, kulturelle Räume, gesellschaftliche Räume - in Räume, in denen ein von dem unseren Zeitgefühl abweichendes herrscht. In Naturräume, in der Zeit zyklisch wahrgenommen wird, in der Zeit ihren drängenden Charakter verliert, in der Zeit zeitlos ist oder doch wenigstens als solche wahrgenommen wird.

Jochen Senger, 1929 in Berlin geboren, studierte nach dem Krieg an der westlichen Hochschule der bildenden Künste und war bei Hans Orlowski Meisterschüler. Orlowski, vom Expressionismus herkommend, hat ein eigenwillig-figürliches, von der Antike inspiriertes Bild- und vor allem Holzschnittwerk geschaffen. Er war dem Mediterranen zugetan, und allein das dürfte eine Gemeinsamkeit zwischen Lehrer und Schüler sein. Denn Senger, der zuerst mit einem Stipendium für ein Jahr nach Paris ging, wo er Fernand Leger kennenlernte, entdeckte bald Spanien für sich. Rund zehn Jahre verbrachte er regelmäßig im kleinen Ort Altea, der in der Nähe von Alicante liegt, im Süden der Iberischen Halbinsel.

In den sechziger Jahren erhielt Senger dann ein Reisestipendium nach Mexiko. Danach folgten Aufenthalte in Norwegen, in der Schweiz, in Frankreich, in Dänemark, und wieder in Mexiko, im Valle de Bravo, einer landschaftlich wunderbaren Gegend, ein paar Autostunden von der Hauptstadt entfernt.

Nach ein paar Jahren im Rheingau kehrte Senger in den achtziger Jahren wieder nach Berlin zurück. Sein Atelier hat er aber im Wendland, in einem kleinen Ort namens Zeetze. Ich denke, wäre ich sehr neugierig und wollte mehr wissen, als die Biographien seiner Kataloge verraten, der Künstler würde mir sicher noch viele weitere Länder nennen.

Warum ich so ausführlich das Reisen und das Leben in anderen Ländern erwähne? Sieht man denn in den Bildern etwas davon? Auf den ersten Blick vielleicht nicht.

Bilder eines Reisenden, der Sehenswürdigkeiten, außergewöhnliche Eindrücke oder gar Exotisches mit Pinsel oder Zeichenstift festhält, sähen sicherlich anders aus. Doch darum geht es im Werk von Senger nicht. Der Ortswechsel bestimmt hier nicht Thema oder Motiv, hat vielmehr psychologische, vor allem aber atmosphärische Wirkungen.

Gelegentlich gibt Senger in Titeln Hinweise auf den Entstehungsort - etwa Ephesos oder Erfoud, Orte im nordafrikanisch- bzw. kleinasiatischen Raum - und wieder geht der Blick übrigens in neue Himmelsrichtungen. Oder in einem Bild steht geschrieben "Recuerdo a San Roque", das heißt Erinnerung an San Roque, einen spanischen Ort. Solche Angaben sind Fingerzeige. Aber auch das meine ich hier nicht, das wäre zu einfach.

Das Reisen oder der Aufenthalt an ferne Gestaden schlägt sich anders nieder, vermittelter und zugleich konzentrierter, kürzelhafter.

Obwohl Reisen Veränderung bedeutet, in den Arbeiten Sengers fällt die stilistische Kontinuität auf. Dies trifft auch zu, wenn man ältere Arbeiten mit einbezieht, von denen hier nur einige wenige hängen, das Werk als Ganzes also. Es gibt eine Entwicklung, ohne Zweifel: aber mit feinen Bruchlinien, nicht mit abrupten Wechseln.

Das Frühwerk, das 1970 in der damals wirklich noch Neuen Nationalgalerie ausgestellt wurde (sie war zwei Jahre zuvor eröffnet worden), wies surrealistische Züge auf, nicht im Sinne eines bildmächtigen phantastischen Verismus, sondern eines verhaltenen, träumerischen, abstrakt-ornamentalen Surrealismus.

Einen fernen Nachhall läßt sich noch in den Bleistiftzeichnungen (hier im anderen Raum ausgestellt) - "Gartenberg spanisch", "Landschaft von der anderen Seite" und "Wedding Berlin" von 1984 - mit ihrem geheimnisvollen Gewusel hingestrichelter Gestalten - erkennen.

Doch waren früher seine Bilder noch von leuchtenden Farbgründen durchzogen, die nicht mittels kräftiger Buntheit wirkten, sondern durch sanfte Tonwert-Abstufungen; sie ließen mit Anspielungen auf menschliche Körperformen vor allem bizarr Landschaftliches erkennen - oft im Sinne von verschiedenen Erdschichten mit merkwürdigsten Ablagerungen.

Das Landschaftliche ist bis heute in Sengers Bildern erhalten geblieben. Es stellt auch das Verbindende seiner Reisen dar, die eben nicht von Urbanität und Technik handeln, von metropolitaner Hektik oder Weltläufigkeit, sondern von der Natur, von freiem Raum, von Weite, von Archaik.

Es sind kleine Ortschaften, abgeschiedene Winkel, auch Ausgrabungsstätten, die Senger reizen. Orte, wo man ganz in Ruhe und Abgeschiedenheit arbeiten kann und vor allem Wind und Wasser, Gräsern und Bäumen, Sonne und Erde ausgesetzt ist.

Das Landschaftliche zeigt sich nicht in konkreten, erkennbaren Landschaften. Der Kunsthistoriker Werner Haftmann sprach einmal von "Landschaften aus innerer Schau". Das gilt heute noch, obgleich sich der Künstler auf immer weniger Farben konzentriert und auch seine Formensprache auf einfachste Zeichen reduziert hat.

Seine Zeichen lassen aber durchaus noch landschaftliche Assoziationen zu. Es sind Zeichen, die an Regen oder Wolken erinnern, an knorriges Pflanzenwerk, aber auch an Tiere. Die Nähe zur steinzeitlichen Höhlenmalerei, von der sich gerade in Spanien einige wunderschöne und weltbekannte Beispiele finden, haben ihn inspiriert. Darauf deuten nicht nur elementare Tier- und Menschzeichen. Titel wie "Casa y caza" (Haus und Jagd) oder "Jagdzeichen" nehmen bewußt darauf Bezug.

Doch nicht nur landschaftliche Assoziationen stellen sich bei Sengers Bildern ein, auch solche auf Architektur, auf Bebautes, auf Zaun, Werkzeug, Stuhl oder Treppe. Die einfachen kubischen Formen ländlichen Bauens sind Inspirationsquelle, auch ausgegrabene Tempel oder Tore, Stätten vergangenen Lebens.

Tragen und Stützen, Abschirmen und Schützen - die elementaren Funktionen der Architektur werden auch als elementare Metaphern des sich Abgrenzens von der Natur ins Bild umgesetzt.

Dabei kann der Blick im Bild auch durchaus von oben gerichtet, können mit den dunklen breiten Streifen oder Balken Grundrißlinien gemeint sein.

Ein häufig benutztes Formelement ist das Fenster. Hier wird die Analogie zum gemalten und gerahmten Bild als einem Fenster wieder aufgegriffen. Fenster verwaist auf Innen und Außen, Offen und Geschlossen, auf Rückzug, aber auch Blickkommunikation mit der anderen Seite oder dem Aufzeigen anderer Existenzräume. Aber Sengers Fenster bieten nicht Ausblick auf Fertiges, Ausformuliertes, sie wirken häufig wie leere Felder, wie getrübte Scheiben, in denen subtil verteilte Zeichen Andeutungen Gegenständlichkeit geben, die genauer zu fassen dem Anschauen anheim gestellt ist.

Immer weniger Farben, wie gesagt, bestimmen die Arbeiten der letzten Jahre; das heißt im Extremfall auch nur Schwarz und Weiß. Dazu Grau- und Brauntöne in vielfältigsten Schattierungen. Die Innenschau der Landschaft bedarf nicht einer grandiosen Farbskala. Sie zieht ihre Ausdruckskraft aus feinsten malerischen und zeichnerischen Nuancen. Aus dem sichtbaren Pinselstrich, den Übermalungen und Verwischungen, den lapidaren, aber konzentriert nebeneinander ins Gleichgewicht gesetzten Gestaltungen.

Die Brauntöne, die in ihrer Erdhaftigkeit auf die elementarste Voraussetzung von Natur - auf Boden, Grund, Feld - verweisen, rühren oft vom Einsatz von Pappe oder Packpapier her. In Form der Collage bedient sich Senger einfachster und alltäglicher Stoffe, deren ästhetische Qualitäten erst im Bild als bearbeitete Fragmente zum Tragen kommen.

Pappe und Packpapier bringen als reliefartige Oberflächen auch eine Materialität ins Bild, die noch einmal darauf verweist, wie sehr Mauern und Wände Sengers Bilder inspiriert haben. Mauern und Wände, auf die sich die Kräfte der Natur und anonyme Menschenhand während undenklicher Zeiten eingeschrieben haben. An Graffiti mag man denken, nicht die heutigen, bunten, gesprühten, sondern ihre anarchischen Ahnen, die wie naturhaft als einfache Ritzungen oder Pigmentspuren dem naturhaften Untergrund entwachsen.

Und es ist nur folgerichtig, wenn Senger auch direkt auf Stein malt und zeichnet. Er benutzt dabei wieder gewöhnliches Material, eines zum Bauen verwendeten, den Ytongstein, der kein natürlicher, sondern Kunststein ist. Das gibt nicht nur einen anderen Untergrund ab, eine aufgerauhte, poröse Fläche, die eine andere Sinnlichkeit besitzt, das bietet auch die Möglichkeit, in den Raum hineinzugehen, dreidimensional zu werden, sich zur realen Architektur in Beziehung zu setzen, sich mit zu gestalten.

Die Werke aus Ytong setzen sich aus zwei oder mehreren Steinen zusammen, wie auch die Bildwerke häufig in Einzelteile gegliedert sind, die sich gestalterisch ergänzen. Das ist ein konstruktiv-spielerisches Element, das noch einmal das Bauen und Zusammenfügen als eine auch wesentliche Kompostionsstruktur von Sengers Werk erkennen läßt. Dem gegenüber stehen das Spontane und Zufällige der zeichnerischen, besser zeichenhaften Malgesten, in denen sich schließlich Landschaftliches und Architektonisches ununterscheidbar vermengen.

Auch ist eine enge Verwandschaft zur asiatischen Kalligraphie in einzelnen Werken augenscheinlich. Die Einbeziehung von Zahlen und gelegentlich auch Buchstaben oder Wörtern verwischt als weiteres die Grenzen zwischen Bild und Schrift, macht vielmehr ihre gemeinsamen Wurzeln erkennbar. Und so wird man vielleicht merken, daß weder Zahl noch Schrift immer eindeutig etwas Bestimmtes, für alle Gleiches benennen. Daß auch sie von Gefühl und Erfahrung, Stimmung und Vorwissen des Betrachtenden oder Lesenden abhängen. Daß andererseits auch Bilder durchaus Situationen und Zustände genau zu treffen vermögen.

Jochen Senger hält sich in diesem Zwischenreich auf, wo Persönliches zu Allgemeinem wird und umgekehrt, ohne daß es sich aber endgültig zu dem einen oder anderen verfestigte. Er vertraut dem Bild, oder genauer: der Kunst des Malens und Zeichnens, als einer besonderen Form der Mitteilung, die sich nicht auf vorgefaßte, vorherbestimmte Formen und Inhalte festlegt, sondern ihr eigenes, in sich stimmiges Vokabular herausbildet. Offenheit und Bereitschaft, sich darauf einzulassen und die eigene Phantasie anzustrengen, wird auch vom Betrachter verlangt. Er ist nicht einfach Konsument, sondern Mitarbeiter, Mitdenker, einfühlsamer Partner in einem offenen ästhetischen Prozeß.